Natürliche Lebensweise

28.05.2014 11:32

Eine natürlichere Lebensweise, dass ist es ja, was im Grunde die meisten Rohies anstreben. Wieder gesünder und natürlicher essen, wieder mehr Verbindung zur Natur herstellen. Wieder auch in anderen Lebensbereichen mehr Natürlichkeit erreichen. Keine oder wenig "Chemie" mehr, natürliche Geburt, langes Stillen, sauberes Wasser, joggen im Wald, statt neben der Autobahn, Bus statt Auto, Bio statt konventionell, mehr Gemeinschaft, statt vereinsamtes Leben. Und das ist natürlich vollkommen OK so und auch erstrebenswert. Der Mensch ist eben ein Kind der Natur (aber auch der Kultur, dass darf man nicht vergessen). Und deswegen ist es natürlich schön, wenn mehr und mehr ein naturverbundeneres Leben führen bzw. führen wollen. 

Für mich stellt sich dann aber auch die Frage, WO wir dieses Leben führen wollen. Ist es natürlich, als Weisser in den Tropen zu leben, oder in Gebieten mit sehr hoher Sonneneinstrahlung (Nordafrika z.B.) oder ist es unnatürlich? Ist es natürlich, Lebensmittel zu importieren, tausende Kilometer rumzukarren, oder ist das eher unnatürlich? Ist es natürlich, sich gehen zu lassen, statt auch entsprechende Körperpflege durchzuführen? 

Diese Fragen kann natürlich nur jeder selber beantworten. Aber ich finde es auch vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen hier in den Tropen durchaus wert, bisherige Selbstverständlichkeiten mal zu hinterfragen. Schauen wir uns mal die Hautfarbenverteilung der Welt an. Man sieht hier doch recht deutlich, was die "natürlichen Lebensräume" der Menschen mit den jeweiligen Hautfarben sind. Vielleicht sind das auch die Gebiete, wo sie am besten gedeihen. Ich möchte hier kein Statement abgeben, dass sich jeder wieder in "seine" Gebiete zurückziehen sollte, dazu liebe ich eine vielfältige Gesellschaft viel zu sehr, aber vor dem Hintergrund einer wirklich natürlichen Lebensweise muss es eben auch erlaubt sein, mal zu hinterfragen, wo es für mich als Weisser am natürlichsten ist zu leben. 

Und wenn man mal davon ausgeht, dass es am natürlichsten ist, als Weisser in den dargestellten Breiten zu leben, dann stellt sich ganz natürlich auch die Frage, WAS man so dort essen sollte. Importfrüchte wie Ananas, Bananen, Papayas, Durian und Jackfrucht? Ist das natürlich? Gehört das zu einer wirklich natürlichen Lebensweise? Wenn man mal ganz ehrlich ist, muss man wohl zugeben, dass es wohl eh schon immer etwas dekadent war, sich damit zu laben oder Bananen für 1,90 Euro reinzuschaufeln. Das Unterbewusstsein sagt einem ja, dass etwas nicht ganz stimmig ist. Jedenfalls war es bei mir der Fall. Es fühlte sich einfach nicht wirklich gut an, weil es eben unnatürlich ist, es soweit zu transportieren. Der Genuss war hier immer etwas mit Schuldgefühlen gekoppelt. Auf Dauer hat mich das echt genervt und ich hab dann angefangen, immer mehr europäisch zu essen. 

Ist es natürlich, in Europa roh-vegan leben zu wollen? Geht das? Bisher steht der Beweis dafür noch aus.

Was ist das überhaupt, Natürlichkeit? Ich glaube, das es die Art und Weise ist, die am unverkrampftesten daherkommt. Wenn jemand ganz natürlich sitzt, dann sitzt er entspannt und seiner Natur entsprechend, wenn jemand natürlich lacht, dann lacht er aus dem Herzen, ohne sich vom Kopf her zu verstellen, ohne etwas zu unterdrücken oder dazu zu tun. Wenn jemand ganz natürlich agiert, dann ist sein Handeln oft spontan und ohne Übertreibung und ohne Untertreibung. Ohne grossartiges konventionelles Korsett, ohne gesellschaftlichen Panzer. Ganz natürlich halt. So wie der Baum nach oben wächst und sich im Wind wiegt, das Wasser den Berg runter fliesst und die Wolken weiss am blauben Himmel strahlen. Ganz natürlich, so wie Kinder lachen wenn sie glücklich sind und rumheulen, wenn sie unzufrieden sind. Diese Natürlichkeit ist es übrigends, was die Zen-Buddhisten anstreben.

Ich hab schon oft bemerkt, dass bei mir aus dem Inneren heraus ein Bedürfnis besteht, einen Garten anzulegen, Bäume zu pflanzen, Sträucher mit essbaren Früchten, aber auch Tiere zu halten, auf die Jagd oder angeln zu gehen, mich zu bewegen ... für mich sind das ganz natürliche Impulse und Regungen. Das ich das bisher nicht ausreichend gemacht habe, liegt zum Grossteil auch an den entsprechenden finaniellen Aufwendungen, die es mit sich bringt. Mal schnell einen Bauernhof und 50ha Land gekauft können die wenigsten. 

Als Kind war es für mich ganz natürlich, im Sommer baden zu gehen, im Frühling und Herbst auf dem Fussballplatz zu sein und im Winter Schlitten zu fahren. Zu essen gab es das, was grade Saison hatte. 

Jetzt kommt mir alles viel komplizierter vor: man sagt mir, ich komme eigentlich aus den Tropen, statt aus Sachsen Anhalt, man sagt mir, mit Südfrüchten lebe ich gesünder, statt mit einheimischen Sachen, man sagt mir, es sei besser, "wilde" Import-Sachen zu essen, statt einheimischer gezüchteter Früchte, dann sagt man mir gleichmal, ich gehören eigentlich nicht dahin, wo ich lebe. Ich muss jetzt meine Nahrung bei Spezialversendern bestellen, oder weite Reise unternehmen, um an diese Produkte zu kommen, ich muss erhebliche finanzielle Mittel bereit stellen, um diese Spezialnahrung zu erwerben. Ich muss mir die wildesten Theorien anhören...das fühlt sich für mich alles nicht so wirklich natürlich an. 

Früher sass ich mit meinem Opa auf der Bank, wir haben uns was erzählt, haben Pflaumen gegessen, oder selbst angebaute Weintrauben. Tropen und deren Früchte gabs nur in Büchern. Wir haben mit Freunden Stunden am See verbracht und geangelt. Im Garten gearbeitet, im Herbst wurde ein Schwein geschlachtet, dazwischen einige Hühner. Es war der Lauf der Dinge...

Was ist jetzt eigentlich natürlicher? Wo muss ich mich denn mehr anstrengen? Was ist eine verkrampftere Lebensweise? Ist es nicht irgendwie grotesk, bei Spezialversendern Produkte aus fernen Ländern bestellen zu müssen oder auf Flugimportware angewiesen zu sein, nur um ein natürlicheres Leben zu führen? 

Jeder muss diese Fragen natürlich (!!!) für sich selber klären. Und ich bin natürlich nicht der Erste, der sich dazu Gedanken macht. Ich glaube, der Jean Huntziger hat sich dazu in seinem Buch entsprechend geäussert. (Hier ein Vortrag vom Huntziger. Ich weiss nicht, ob er noch 100% roh ist, glaube wohl nicht, aber er sagt eigentlich einige Sachen, auf die ich auch schon gekommen bin.)

Ich persönlich halte den Ansatz "local food" und "jahreszeitengerecht" jedenfalls für überzeugender als "importieren oder auswandern". Aus meiner Sicht erscheint es einfach natürlicher, in den Breiten zu leben, an die man am besten angepasst ist und sich dort von lokalen Produkten und der Jahreszeit entsprechend zu ernähren. 

Und ist das nicht wieder eine spannende Herausforderung! Herrlich, oder?!

—————

Zurück